Mit Geschichte(n) um die Welt
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Von Licht und Schatten. Oder: Was ich zu Kanada noch schreiben wollte 1/2

Veröffentlicht: 29.09.2023


Fast drei Monate Kanada und (fast) einmal durch den ganzen Norden Nordamerikas;

auf Land- und Seeweg.

In kurz: eine Er-Fahrung.

Von viel Strecke, viel Weg;

von Weite, Wildnis, Wasser,

Unbefangenheit, dem Gefühl von Freiheit;

Von Arbeit und komplexen Aufgaben;

von Sprachen;

von unterschiedlichen Erzählungen;

von superfreundlichen Menschen, von Smalltalk - Komplimenten an (fast) jeder Ecke. Ich weiß nicht, wie häufig ich in den letzten Monaten gehört habe, wie cool meine Schuhe, mein Portemonnaie, meine Brille, mein Haarschnitt, meine Hose, mein Oberteil, mein Rucksack, meine Tasche, mein Backpack sei;

einfach so, 

im Vorbeigehen;

Und dabei trage ich die selbe Kleidung, Brille, die gleiche Friseur wie in Europa, 

wie seit etwa drei Jahren.

Mal der Verkäufer im Supermarkt, eine Kellnerin, die Frau beim Bäcker, einfach jemand beim Straße Überqueren, die junge Frau an der Bushaltestelle.

Und mit einmal bekommt man, bekomme ich, einen Blick für Kleinigkeiten auch bei und für andere. "Hey, wie geht's dir heute?"; "Hast du gestern die Sonne genossen? Ein bisschen was vom Sommer ist noch da!"; "Wohin bist du auf den Weg?";- der klassische Smalltalk.

Auf Kanadisch geht es noch ein Stückchen weiter.

Und ich mache gern mit: 

Was für tolle Ohrringe, die Verkäuferin doch hat!

Und sage es ihr.

Wir lächeln.

Sie erzählt, wer sie für sie gebastelt hat, was für Material es ist. "War schön mit dir zu quatschen!" Man geht und denkt sich: "Was für ein schöner Tag!".

So einfach.

So normal.

So schön.

Doch auch in Kanada gibt es Schattenseiten. Zu einseitig, eigentlich nicht möglich, wäre es das auszublenden.

Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob auch Menschen mit nichtheller Hautfarbe auch so oft, eigentlich fast immer, wenn kein passendes Kleingeld fürs Ticket da ist, vom Busfahrer mit einem freundlichen: "Bezahlst du halt das nächste Mal." oder einfach nur: "Don't worry! Welcome on board!" - "Kein Ding! Willkommen an Board!" begrüßt und freundlich - ohne Fahrkarte - mitgenommen zu werden.

Die kanadischen Städte, die ich kennengelernt habe, sind toll, haben eine mitreißende Atmosphäre, Leben und Lebensfreude ist an fast jeder Ecke zu spüren. Dazu gibt es gefühlt nur einen Steinwurf entfernt meist spektakuläre Landschaft: Berge, Meer, Seen, Wälder. Wer draußen sein möchte, kann es ständig sein, ist gerade dazu verleitet, eigentlich bleibt gar nichts anderes übrig. Schwupps ist man/frau in der Wildnis, mit der Natur verbunden, irgendwie ruhig.

Und dennoch: das hat hier alles seinen Preis. Ich schätze die Lebenshaltungskosten sind etwa ⅓ höher als in Deutschland, der Durchschnittsverdienst ist etwa gleich, wenn ich richtig informiert bin. An manchen Ecken - in jeder Stadt - stößt man auch auf blanke, pure Armut, extreme Not, Obdachlosigkeit.

Ich hatte oft das Gefühl, es wurde in einer stickig-aufgeheizten Stadt im kanadischen Sommer mit einmal schlagartig 10 Grad kälter: Soziale und gesellschaftliche Probleme, Drogen;

Zeltstadt in Traumstadt,

Traumstadt um Zeltstadt,

auch in Vancouver,

auch in Toronto,

Calgary, 

Winnipeg,

Edmonton.

Zeltstadt in Traumstadt.

Das Zelten am Strand war auf dem West Coast Trail unglaublich schön, wild und irgendwie romantisch. In Victoria leben Menschen in Hütten am Strand, aus Treibholz, selbst zusammengebaut. Auch wenn Victoria als die wärmste Stadt Kanadas gilt, verging mir da das traumhafte "Zeltgefühl" der Westküste.

Ich habe den Eindruck, die pure Not und Zeltstädte sind (noch?) nicht so groß wie in manchen Ecken in den USA, doch trotzdem. Ich war zwar noch lange nicht überall auf der Welt, doch solche krassen Gegensätze von Arm und Reich kenne ich vor allem aus Nordamerika.


Zudem - und anderes Thema - gerade in diesem kanadischen Sommer: Selbst in Winnipeg, hunderte, tausende Kilometer von Bränden entfernt roch es tagelang nach Rauch; die Sonne war an manchen Tagen nur hinter einem grauen Schleier zu sehen. In British Columbia, BC, der Provinz in der auch Vancouver liegt, sind die Sonnenuntergänge und -aufgänge wahnsinnig schön, gerade jetzt: orange, rot, dunkelrot, lila, am gesamten Himmel. Wunderschön.

Sonnenuntergang in Victoria.

Doch das liegt auch an den Waldbränden. Der Rauch und Schmutz in der Luft lässt die Sonne (noch) schöner erscheinen; - Wie absurd, grotesk, traurig, wenn man drüber einmal wirklich nachdenkt.

An vielen Stellen auf den kleineren Inseln vor Vancouver Island hat man das Gefühl, es gehe direkt ins offene Meer hinaus.

Doch auch das ist eine schöne Illusion: man kann nur die vielen Berge nicht sehen;

Blick aufs "offene Meer".

es ist zu verrraucht,

zu verqualmt.


Selbst Google sagte einem zeitweise (und noch immer) 'Rauch' als Wettervorhersage an.


Es brennt noch immer in Kanada, wenn auch nicht mehr so sehr wie im Hochsommer. Es regnete kaum und wird seit Jahren immer weniger; Waldbrände, die in großen Teilen Kanadas auch -in kleinerem Ausmaß zum Sommer dazugehörigen - nehmen extrem zu. Dieses Jahr hatte es ein bisher unbekanntes Ausmaß angenommen. Dass es vom Klimawandel kommt, bestreitet kaum noch jemand, doch es liegt auch an der Monokultur in den Wäldern und der kanadischen Holzwirtschaft.

"Day for Truth and Reconciliation ", Tag der Wahrheit und Versöhnung, am 30. September.

Übermorgen, am 30. September, ist der Day for Truth and Reconciliation, der Tag der Wahrheit und Versöhnung, umgangssprachlich auch "Orange Shirt Day“ genannt - ein Tag an dem viele ein oranges Oberteil tragen - in Erinnerung und zur Würdigung der Opfer der residential schools, der kanadischen Zwangsinternatsschulen für indigene Kinder (siehe dazu den Blogbeitrag vom 12.8.23/Von der isländischen Minderheit, indigenen Völkern und Multikulti auf Kanadisch).

Der Tag wird in British Columbia dieses Jahr das erste Mal als offizieller und gesetzlicher Feiertag begangen. Es gibt Demonstrationen, Veranstaltungen und kulturelle Programme an vielen Orten. Die Erfahrungen Indigener und vor allem auch der an ihnen begangene Genozid, die Überlebenden der residential schools, der Zwangsinternate, stehen im Vordergrund. Das hört sich erst einmal vielversprechend an.


Ab wann ist "auch mal genug"? Wie geht die kanadischen Gesellschaft mit Indigenen heute um und wie sieht es mit strukturellem Rassismus aus? Wie werden ab wann und an wen Entschädigungen gezahlt? Wer darf in welchen Regionen bestimmen, wie das Zusammenleben aussehen soll? Welche Sprache steht auf der öffentlichen Beschilderung zuerst? Welche Bezeichnungen werden für Ortschaften, Inselgruppen genutzt - die der Indigenen oder die der Europäer, die das Land kolonisiert haben? Welchen Raum nehmen im kanadischen Multikulti, in den Schulen, an den Unis, Sprache und Kultur indigener Völker ein?

Mehr? 

Zu wenig?

Bereits genug?

Darüber wird viel gestritten, gerade rund um solche Gedenktage.

Antworten

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