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Wie ein Baum beinahe unsere Reise vermasselte

Veröffentlicht: 20.10.2023

Dürfen wir uns vorstellen?

Karen und Werner, Radreisende aus Leidenschaft, inzwischen Großeltern. Wenn wir nicht unterwegs sind, leben wir bei Wismar, nahe der Ostsee. Jung sind wir nicht mehr, aber fit für die nächste Radreise. Im Sommer 2016 startete unser erstes "Sabbatical im Sattel". Durch Deutschland, Niederlande, Belgien, Frankreich, Kanada, USA, Portugal, Spanien. In den USA kurbelten wir die gesamte Route 66. Zwölf Monate und fast 17000 km im Fahrradsattel. Was für eine großartige Erfahrung!

Nun bereiten wir unser "Sabbatical im Sattel" Nummer zwei vor. Wohin wollen oder können wir radeln? Richtung Osten war unser Ziel. Im Moment keine gute Idee. Aber da ist immer noch unser Traumland Mexiko. 2016 standen wir an der Grenze, sahen die Lichter von Tijuana. Wegen Unruhen nach der Präsidentenwahl hatten wir uns gegen einen Grenzübertritt entschieden. Ob uns Mexiko diesmal vergönnt ist?

900 km durch Deutschland 

Der Kalender zeigt den 20. August 2022. Aufgeregt fahre ich mit dem Finger über die Zeilen unserer abgenutzten Packliste. Ja, alles dabei. Auch zwei neue Ladegeräte, Forumslader und Harvester, die mit jeder Kurbelumdrehung Energie liefern. Wir können aufatmen. Und endlich unsere gut gefüllten Fahrradtaschen an die Räder hängen. Unsere Nachbarn kümmern sich zum zweiten Mal viele Monate um unsere Wohnung, einschließlich Blumen gießen. Für das Foto vor dem Start fühlen sie sich auch verantwortlich. Danke Monika und Hans-Peter, ihr seid die besten Nachbarn der Welt. Wir können beruhigt in die Pedalen treten. Das macht uns unheimlich glücklich.

Nach drei Stunden und 33 km sind wir bereits an unserem ersten Tagesziel, einem Wald bei Ventschow. Unser Zelt steht auf einer Lichtung, in Sichtweite ein kleiner Waldsee. Lange hält die Freude über diesen idyllischen Platz nicht an. Von einer nahegelegenen Disco schallt immer lauter werdende Musik herüber. Bässe dröhnen über den See. Bis morgens um vier. Wir sind lange wach. Viele Fragen gehen uns durch den Kopf. Warum sind wir eigentlich erst Ende August losgefahren, und warum am ersten Tag nur ganz bescheidene 33 km? Ist es überhaupt richtig, dass wir jetzt im Sattel sitzen? Doch von vorn.

Ende Mai radelte ich, Karen, zu meinem Vater nach Wittstock/Dosse. Zumindest hatte ich es vor. Nach zwei Übernachtungen im Zelt erreichte ich die Müritz. Freute mich über den Forumslader, der zuverlässig Energie für das Navi lieferte. Freute mich über den Rückenwind, der das Vorankommen mit viel Gepäck einfach machte. Freute mich, dass ich andere Radler traf. Wunderte mich über den Baum, der den Radweg zwischen Sembzin und Sietow-Dorf versperrte. Ich trug meine Radtaschen über das Hindernis. Ich trug mein Rad über den Baum, trat in ein Loch, stürzte und hörte es knacken. An meinem Rad brach der Spiegel, ich brach mir das linke Sprunggelenk. Und freute mich nicht mehr. Auch im rechten Fuß ein dumpfer Schmerz. Ingo aus Hannover hatte mir gerade noch angeboten, mein Rad über den Baum zu tragen. Warum wollte ich es unbedingt selbst tun? Ich weiß es nicht. Ich wusste nur, mindestens ein Fuß ist gebrochen. Rückwärts kam der Krankenwagen den Waldweg entlang. Der Notarzt verpasste mir an Ort und Stelle eine Narkose und richtete den gebrochenen linken Fuß. Die Röbeler Polizei holte meine Taschen und das Fahrrad weg. Der hilfsbereite Ingo und die vielen anderen Radfahrer, die inzwischen vom Krankenwagen gestoppt wurden, versicherten mir, dass sie meine Sachen bewachen, bis die Polizei da ist. Ich wachte kurz vor der Unfallklinik Plau im Krankenwagen auf. Mein linker Fuß wurde operiert, der rechte war zum Glück nur geprellt. Was bin ich froh, dass die Waldrettung so hervorragend geklappt hat. Ich musste fremden Menschen meine Ausrüstung anvertrauen. Und den Ärzten meine Gesundheit. Schon mehrmals war ich längere Zeit allein auf Radreise. In England, Frankreich, Belgien, Niederlande, Deutschland. Die Menschen waren überall freundlich, interessiert und hilfsbereit. Besser, als in den Medien dargestellt. Genau deshalb, weil ich diese Erfahrungen habe, machte ich mir keine Gedanken um meine Ausrüstung. Ich vertraute den anderen Radfahrern und wurde nicht enttäuscht. Werner holte alles unversehrt von der Polizei Röbel ab.

Als wir im Wald im Zelt liegen, ist der Unfall knapp drei Monate her. Nach der Operation konnte ich mich sechs Wochen nur im Rollstuhl und mit Krücken fortbewegen. Geduld ist nicht meine Stärke, auf der Couch sitzen auch nicht. Ich hielt durch. Endlich wurde der Fuß geröngt, für gut befunden und Oma Karen lernte wieder laufen. Dank der hervorragenden Physiotherapie, die mir hilfreiche Übungen zeigte, lief ich nach vier Wochen ohne Krücken. Und radeln konnte ich auch wieder. Trotzdem ist noch fraglich, ob mein Fuß der Dauerbelastung gewachsen ist. Unsere Reise ist erstmal eine Testtour. Bekomme ich Schmerzen oder schwillt der Fuß an, werden wir mit dem Zug zurück fahren und auf andere Art reisen. Bremen setzen wir uns als erstes Ziel. Kann ich bis dahin gut radeln, sollte der gebrochene Fuß unserer Radreise nicht mehr im Wege stehen. Schon am zweiten Tag schaffe ich problemlos 59 km. Und ein paar Hügel waren auch dabei. Bei Parchim besuchen wir Uschi, mit der ich einige Tage in der Unfallklinik verbrachte. Auf ihrem Grundstück können wir campen. Alles Schlechte hat was Gutes. Ohne den Unfall hätten wir Uschi und ihren Mann nie kennengelernt. Weiter geht es zu meinem Vater nach Wittstock, der Ende Mai vergeblich auf mich wartete. Wir verbringen mit ihm einen Tag und verabschieden uns für ein Jahr. Vater ist fast 90 und es geht ihm gut. Doch der Gedanke, ob man sich wiedersieht, lässt sich nicht verscheuchen. Zu Hause sagten wir unserer Tochter, unserem Schwiegersohn, unserer kleinen Enkelin und vielen Freunden Lebewohl. Die kleine Jette, gerade drei Jahre alt, drückte uns am letzten Abend besonders fest. Obwohl sie noch gar nicht verstehen kann, dass Oma Karen und Opa Werner länger unterwegs sein werden. Immer diese Abschiede....

Bisher kurbelten wir bei idealem Wetter. Doch noch in Wittstock geht ein Wolkenbruch nieder. Unsere Rettung ist eine Tankstelle. Fast eine Stunde dürfen wir uns drinnen aufhalten. Es tröpfelt nur noch, in Regenklamotten geht es weiter. Zwei Mal retten wir uns noch in Bushaltestellen, dann scheint wieder die Sonne. Wir kurbeln zur Havel und Elbe. 50 bis 60 km sind für mich kein Problem. An der Elbe bläst der Wind von vorn, heftige Böen hauen uns fast vom Rad. Unsere Radtaschen sind bei Rückenwind wie Segel, aber jetzt wie Bremsklötze. Und genau hier merke ich das erste Mal, dass ich sechs Wochen auf der Couch verbringen musste. Meine Oberschenkel zittern. Der nächste Campingplatz ist weit, und kein versteckter Platz in der Natur zu finden. Ich kämpfe mich durch bis Dömitz. Das war der zweite Tag bei Gegenwind, und heute bin ich nach 77 km einfach nur fix und fertig. Im Wasserwanderzentrum sind zum Glück auch Radler willkommen. Ein netter Zeltplatz. Wir bleiben zwei Nächte, ich brauche einen Tag Auszeit. Mein Fuß meckert kaum, aber dieser Muskelkater in den Oberschenkeln. Ich watschele wie eine Ente.

Wir überqueren in Dömitz die Elbbrücke, die meisten Fähren sind wegen Niedrigwasser außer Betrieb. Der Ruhetag war genau richtig. Ich kurbele und kurbele und denke überhaupt nicht mehr an den gebrochenen Fuß. Auch der Muskelkater hat sich verzogen. Hinter Dannenberg immer mehr langgezogene Steigungen. Sie machen mir nichts aus. Ich bin mir sicher, meine Muskeln erinnern sich, was sie schon alles geleistet haben. Es läuft jeden Tag besser. Bei Lüneburg finden wir einen kleinen Campingplatz. In Buchholz in der Nordheide können wir unser Zelt in einem verwilderten Garten aufstellen. Bei 1nite-tent hatten wir den freundlichen Gastgeber gefunden. Die ganze Familie besucht uns so nach und nach. Über 1nite-tent bieten Privatleute Zeltplätze ohne Bezahlung an. Meist ohne Wasser und Dusche, doch völlig ausreichend. Unsere Rettung, wenn es keine Campingplätze gibt. Wir bieten über Warmshowers (ähnlich wie Couchsurfing, aber nur für Reiseradler) gratis unser Gästezimmer an. Da wir dicht am Ostseeradweg wohnen, hatten wir oft interessante Radreisende zu Besuch. Aus Japan und Australien zum Beispiel. Was für ein Glück, dass es dieses kostenlose Geben und Nehmen gibt. Kurz vor Bremen, in Grasberg, dürfen wir bei Heiko über 1nite-tent zelten. Ein verrückter Typ, er erkundet die Welt im Motorradsattel. Wir haben uns viel zu erzählen. Heiko ist aktiv in der Feuerwehr. Abends findet auf seinem Grundstück eine Übung der Jugendfeuerwehr statt. Disconebel simuliert Rauch. Schnell rücken mehrere Löschfahrzeuge an. In Vollausrüstung suchen und löschen die Jugendlichen den Brandherd. Wo kann man schon solche Aktion aus unmittelbarer Nähe miterleben?

Mitten in Bremen. 630 km zeigt unser Tacho. Was sagt der Fuß dazu? Die Bewegung tut gut, er will mehr davon. Und genau deshalb marschieren wir ins ADAC-Reisebüro und schließen eine Auslandskrankenversicherung ab. Beide haben wir ein gutes Gefühl. Wir liegen uns in den Armen und starten jetzt jeden Morgen unsere Tour mit "Let's radel". So wie bei unserem erstem Sabbatical.

Hinter Bremen finden wir einen Campingplatz. Dass es eine Gebühr pro Person und für Zelte gibt, ist klar. Auch für Waschmaschine und Trockner, die wir dringend brauchen. Doch hier zahlt man sogar fürs Fahrrad. Das erleben wir zum ersten Mal. Am nächsten Abend sind wir bei Anja und Jens in Edewecht. In diesem Jahr sind wir ihre ersten 1nite-tent Gäste. Die beiden reisen auch gern. Ihr Sohn nutzt während seiner Trekkingtouren oft 1nite-tent. Da mussten die Eltern natürlich ihre Wiese zum Zelten anbieten.

Oft wurden wir angesprochen. Vorm Supermarkt, auf Campingplätzen oder wenn wir irgendwo auf einer Bank saßen. Woher und wohin, ganz typische Fragen. Auf dieser Reise diskutierte man viel über die politische Situation. Und wie immer wurden unsere Räder kritisch beäugt: Wo sind Motor und Akku? Nicht zu finden. Wir radeln mit Muskelkraft. Und fühlen uns manchmal wie eine aussterbende Spezies.

Es ist nicht mehr weit bis ins Emsland. Werners Mutter wohnt dort. Auch von ihr trennen wir uns mit dem Gefühl, sie vielleicht zum letzten Mal zu sehen. Alles hat seinen Preis. Wer viel reist, muss sich oft verabschieden. Auch unterwegs fällt es oft schwer, zu gehen. Man trifft nette und hilfsbereite Menschen. Würde gern länger ihre Gegenwart genießen. Und fragt sich: Sehen wir uns irgendwann wieder?

Wir radeln an der Ems Richtung Süden. Die Campingplatzsuche ist schwierig. Ein Platz im Wald ist nicht zu finden, nur Gestrüpp und Reitwege. Am Geester See ein Schild: Wohnmobilstellplatz, Zeltplatz. Nur der Zeltplatz existiert nicht. Nach erfolgloser Suche und kurz vor Einbruch der Dunkelheit stellen wir unser Zelt einfach auf den Wohnmobilstellplatz. Und verschwinden morgens ganz früh wieder. Eine Entscheidung muss her. Wir zögern nicht lange. Wir nehmen den kürzesten Weg dahin, wo der Radweg Fietspad heißt. Nach gut 900 km und 19 Tagen im Fahrradsattel heißen uns die Niederlande herzlich willkommen. Mit drei Campingplätzen gleich hinter der Grenze.

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